Keynote – Daniel S. Hamilton

Die Vereinigten Staaten und Mitteleuropa:
Ein Blick in die Zukunft

Zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Marshall Plans

Dr. Daniel S. Hamilton
Professor der österreichischen Marshallplan-Jubiläumsstiftung (Austrian Marshall Plan Foundation)
Johns Hopkins University SAIS
Mai 2017

Vielen Dank für die freundliche Vorstellung und die Möglichkeit, heute am Pfingstdialog teilnehmen zu können. Mein Dank gilt unseren Gastgebern für ihre Gastfreundschaft und ihre Fähigkeit, eine außerordentliche Gruppe von Menschen hier zu versammeln. Mein besonderer Dank gilt auch der Marshallplan-Jubiläumsstiftung für ihre führende Rolle bei der Aufrechterhaltung enger Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Österreich, und für ihre Unterstützung meiner Arbeit und der Arbeit meines Zentrums, was uns ermöglicht die europäische Stimme in Washington zu stärken und neues Wissen über die Dynamik Mitteleuropas zu schaffen.

In diesen Tagen, wenn wir die Zukunft dieser dynamischen Region betrachten, erinnern wir uns an wichtige Meilensteine in der Beziehungen von Amerika zu Mitteleuropa – eine Beziehung, die in den letzten Jahrzehnten durch Zyklen amerikanischen Engagements und Rückzug gekennzeichnet waren.

Insbesondere erinnern wir uns an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Europa – jene dramatischen Tage der Befreiung vor 72 Jahren.

Leider führte in den meisten Teilen Mitteleuropas die Befreiung von den Fesseln des Dritten Reichs nicht zu Freiheit, wie dies in Westeuropa, Österreich und Deutschland selbst der Fall war. Bis Ende Mai 1945 hatten sich der amerikanische General George Patton und seine vorrückenden Truppen bereits aus Westböhmen, das sie befreit hatten, zurückgezogen und überließen der Roten Armee nicht nur die Kontrolle über tschechische und slowakische Gebiete, sondern über die gesamte Region. Die Hoffnung auf Befreiung wich bald der nüchternen Realität von Fremdherrschaft und eines neuen Kalten Krieges.

Der Rückzug Amerikas aus dieser Region war ein wesentlicher Bestandteil eines allgemeinen Rückzugs aus der globalen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten Amerikas in diesen ersten Nachkriegsjahren, als amerikanische Soldaten und die Gesellschaft, die sie in den Einsatz fernab von amerikanischen Ufern schickte, sich nach deren Rückkehr sehnten, um die Dividende des Sieges einzufahren und zuhause eine bessere Zukunft aufzubauen. Nachdem so viele Menschen und so viel für Europa geopfert wurde, waren die Amerikaner bereit, heimwärts zu blicken. Die weitverbreitete Grundstimmung war klar – es war Zeit, die Interessen Amerikas an erste Stelle zu setzen.

Europa lag inzwischen am Boden, verwüstet von seinen Kriegen und nicht in der Lage, die Mittel für eine friedliche Zukunft zu generieren. Zwischen 1945 und 1948 stellten die Vereinigten Staaten Unterstützung in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar zur Verfügung – ein damals enormer Betrag. Anfang 1948 wurde es jedoch klar, dass amerikanische Großzügigkeit alleine den Kontinent nicht wiederbeleben hatte können, welcher weiterhin traumatisiert und durch Spaltungen innerhalb und zwischen Gesellschaften zerrissen war.

Erst dann, als die Sorgen über die Zukunft Europas zunahmen, verstand die amerikanische Führung, dass sich die Vereinigten Staaten einen Rückzug nicht leisten konnten und dass Scheckbuch-Diplomatie alleine nicht ausreichte, um die eigentlichen Interessen und Werte der Vereinigten Staaten zu wahren, für deren Verteidigung sie während der zwei Weltkriege so viel geopfert hatten.

Erst dann begann wirklich ein neuer Zyklus, der von einer klaren Botschaft geprägt war, verkündet von Außenminister George Marshall am 5. Juni 1947: die Vereinigten Staaten würden sich aktiv auf dem europäischen Kontinent einbringen und so gut wie möglich zu einer besseren Zukunft Europas beitragen – aber die Europäer müssten die Richtung weisen. Wenn Europäer amerikanische Unterstützung wollten, dann müssten sie die Dinge, die sie trennen, überwinden und zeigen, wie sie eine bessere Zukunft bauen werden – und zwar gemeinsam.

Das war der „Plan“ des Marshall-Plans – Amerika würde Europas wirtschaftliche Erholung anheizen, Amerika würde hinter Europa stehen, doch Europa sollte zusammenarbeiten um den künftigen Weg abzustecken.

Der Marshall-Plan war ein riesiger Erfolg – und sein Erbe macht sich auch weiterhin für unsere Beziehungen bezahlt, was man anhand der guten Arbeit der Marshallplan-Jubiläumsstiftung sehen kann. Wohl kaum ein Land profitierte so sehr vom Marshall-Plan wie Österreich, denn Österreich erhielt mehr Geldmittel pro Kopf als nahezu jedes andere Empfängerland. Ohne den Marshall-Plan wäre die wirtschaftliche Wiederbelebung Österreichs nach dem Krieg schwierig gewesen, wenn nicht gar undenkbar. Bruno Kreisky befand einst, dass die Österreichs Beteiligung als Antwort auf Marshalls Herausforderung das war, was Österreicher zu Europäern machte.

Heute erinnert sich jeder an das Geld hinter dem Marshall-Plan – doch letztendlich belief sich der Marshall-Plan auf 13 Milliarden US-Dollar – weniger Geld als die 15 Milliarden US-Dollar, welche die Vereinigten Staaten in den drei Jahren nach dem Krieg in Europa investiert hatten.

Es war nicht nur Geld, das den Marshall-Plan ausmachte, sondern es war der „Plan“ hinter dem Plan – und sein wahres Vermächtnis für eine bessere Zukunft Europas. Die Europäer mussten den Amerikanern nicht nur mitteilen, wie sie die Mittel verwendeten, sondern sie mussten dies gemeinsam tun. Der Effekt war, die Europäische Bewegung zusammenzuschweißen und das, was bisher nur ein Traum gewesen war, Wirklichkeit werden zu lassen – eine wahre Europäische Gemeinschaft. Diesen Monat feiern wir auch diesen Erfolg – den 67. Jahrestag des Schuman-Plans, mit dem die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl geschaffen wurde, die Vorläuferorganisation der Europäischen Union, deren Gründungsvertrag vor 60 Jahren in Rom unterzeichnet wurde, was wir in diesem Frühjahr gefeiert haben.

Mit neu gewonnenem und gemeinsamem Engagement schufen die Vereinigten Staaten und ihre Partner andere Institutionen, darunter das GATT, die OECD und die NATO. Das Atlantische Bündnis schuf einen Rahmen, in dem sich die Europäische Einheit entwickeln konnte und diese Institutionen trugen gemeinsam dazu bei, ein halbes Jahrhundert lang beispiellosen Frieden und Wohlstand herzustellen – jedoch nur für einen halben Kontinent.

Die Vereinigten Staaten weiteten ihr Angebot der Marshall-Plan-Hilfe auf ganz Europa aus, darunter auch auf die Sowjetunion. 16 westeuropäische Staaten akzeptierten sie, so auch die Tschechoslowakei. Doch nach einem diesbezüglichen Treffen mit Stalin war der tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk gezwungen, das Angebot der Vereinigten Staaten abzulehnen. Der entmutigte Masaryk sagte dazu: „Ich bin als Außenminister eines unabhängigen souveränen Staates nach Moskau gereist. Ich kam als Lakai der sowjetischen Regierung zurück“.

Streitigkeiten über die Hilfe wurden bald zu Mauern, die Menschen voneinander trennten, und Europas lebendige Mitte wurde aufgelöst in zwei künstliche Europas – „Ost-“ und „Westeuropa“. Junge Tschechen wuchsen auf und wussten mehr über Moskau als über Wien. Junge Wiener wussten mehr über Mailand als über Bratislava. Junge Grazer wussten mehr über München als über Budapest. Hamburger und Frankfurter wussten alle etwas über London und nichts über Leipzig.

Und dann, vor 28 Jahren, kamen der ungarische Außenminister Gyula Horn und der österreichische Außenminister Alois Mock zusammen – ich sollte vielleicht anmerken, Alois Mock ist ein bekannter Absolvent des Bologna Center unserer Einrichtung/Universität – um den Eisernen Vorhang aufzuschneiden. Dieses Ereignis verlieh der einzigartigen Botschaft, die viele einsame Seelen jahrelang geäußert hatten, eine Stimme, welche dann zu einem Crescendo auf den Straßen von Budapest, Danzig, Prag, Leipzig, Bukarest und anderen mittel- und osteuropäischen Städten heranwuchs. „Wir wollen zurück nach Europa“, war die Botschaft jener auf den Straßen und in ihren Trabis, Skodas und Ladas – Teil eines Europas zu sein, zu dem sie immer gehört hatten und dem sie nicht beitreten konnten, da sie daran gehindert wurden, weil dort die Rote Armee im Sommer 1945 Halt gemacht hatte.

Diese Botschaft aus Mitteleuropa löste ein Erdbeben aus, das immer noch den Kontinent und seine Institutionen erschüttert.

Diese Botschaft gab uns eine Richtung.

Diese Botschaft ist sowohl Chance als auch Verpflichtung – die Chance, einen Kontinent zu schaffen, der wahrhaft vereint, frei und im Frieden geeint ist, und die Verpflichtung, dies durchzuziehen.

Es war in diesen letzten Tagen des Kalten Krieges jedoch unklar, ob sich die Amerikaner, konfrontiert mit der Friedensdividende im Ausland und gewaltigen Herausforderungen im Inland, zurückziehen oder engagieren würden.

Im Herzen Mitteleuropas engagierten sich Amerika und seine Partner tatkräftig, die historische Chance zu ergreifen und seine Verpflichtung einzuhalten, indem sie Deutschland halfen, sich in Frieden wieder zu vereinigen und Polen, Tschechien und Ungarn, unseren Institutionen beizutreten. Österreich beteiligte sich auch an diesem historischen Prozess der Versöhnung und Integration.

In Südosteuropa scheiterten wir jedoch, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Als sich die Gewalt am Balkan immer mehr ausbreitete, zog sich Amerika zurück. Die US-Regierung gab bekannt, dass die USA „kein Pferd im Rennen“ hatten. Viele Europäer schienen dem zuzustimmen und nannten es die „Stunde der Europäer“.

Amerikas Scheitern, der historischen Versuchung des Rückzugs zu widerstehen, und unser gemeinsames Scheitern, Amerikas anhaltende Rolle als europäische Macht zu verstehen, statt als eine Macht in Europa, führte zum größten kollektiven Versagen des Westens seit dem Zweiten Weltkrieg. Erst nach einer großen Tragödie – an die dieses Jahr der 22. Jahrestag des schrecklichen Genozids in Srebrenica erinnert – verstanden die Vereinigten Staaten und ihre Europäischen Partner wieder die Lektionen, die sie vierzig Jahre zuvor gelernt aber dann vergessen hatten.

Wieder einmal wandten wir diese gelernten Lektionen an, indem wir zusammenarbeiteten um die Konflikte am Balkan zu beenden und diesen Teil des Kontinents auf einen Kurs zu bringen, sich „Europa“ wieder anzuschließen – einem Europa, wo Krieg einfach nicht passiert, wo Demokratie und Wohlstand an erster Stelle stehen.

Wieder einmal war finanzielle Hilfe des Westens – und diesmal vor allem Europas – wichtig, doch wichtiger war die Botschaft hinter dem Geld: Stabilität kann nicht von außen auferlegt werden, sondern muss von innen aufgebaut werden. Nur wenn sich die betreffenden Länder verpflichten, Zustände zu schaffen, in denen deren Integration in diese Gemeinschaft möglich sein kann – und zwar durch die Beilegung bilateraler Streitigkeiten und ethnischer Spannungen sowie durch das Einleiten wahrer politischer und wirtschaftlicher Reformen und die Wahrung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, Zusammenarbeit statt Abgrenzungen – dann ist davon auszugehen, dass sie ihre turbulente Geschichte hinter sich lassen werden.

Wenn wir auf über 70 Jahre zurückblicken, können wir stolz sein. Aber wir können nicht selbstgefällig sein.

Trotz unserer Bemühungen, ist Europa noch nicht ein Ganzes, frei oder in Frieden geeint.

Der Westen Europas sieht sich einer Verquickung von Krisen gegenüber – Migration, Terrorismus, Brexit, geringes und ungleichmäßiges Wachstum, hohe Jugendarbeitslosigkeit und beträchtliche Herausforderungen aufgrund der Schulden in vielen Ländern, der Krebs „illiberaler Demokratie“ – welche die europäische Politik, Wirtschaft und Sicherheitspolitik verunsichert haben.

Europas Süden und Osten stehen nicht besser da.

In den westlichen Balkanländern gibt es weiterhin Turbulenzen, die 20 Jahre Fortschritt bedrohen.

Ein Jahrzehnt nachdem die Europäische Union sechs Ländern im Osten ihre „Östliche Partnerschaft“ vorgeschlagen hatte, ist Russland in zwei dieser Länder eingedrungen und hat Russische Truppen in fünf dieser Länder stationiert.

Einige Jahre lang war Weißrussland als „letzte Diktatur Europas“ bekannt. Das ist es nicht mehr – nicht weil es keine Diktatur mehr ist, sondern weil andere Diktaturen dazukamen.

Direkt vor unseren Augen verbreitet sich der Krebs der sogenannten „illiberalen Demokratie“ aus Ostmitteleuropa und befällt die gesamteuropäische Politik.

Direkt vor unseren Augen wachsen zwei künstliche Europas wieder heran – eine turbulente Grauzone im Osten und Südosten, in der die Menschen nicht wissen, wo ihre Zukunft liegt; und eine nach innen gerichtete, zerrissene Uneinigkeit im Westen, wo die Menschen vergessen haben, warum sie je zusammengeschlossen haben, um eine „immer engere Union“ zu schaffen.

Natürlich ist Europa in seiner Dysfunktion nicht alleine. Die Wahl von Donald Trump, einem Anti-Establishment Wirtschaftsnationalisten, zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten hat die transatlantische Partnerschaft in ihren Grundfesten erschüttert.

Trumps Sieg war ein Triumph für das jacksonische Amerika – eine wichtige minoritäre politische Strömung, die immer unsere Diskussionen beeinflusst hat, wie sich die Vereinigten Staaten gegenüber dem Rest der Welt verhalten sollen. Von allen großen politischen Traditionen Amerikas ist der Jacksonismus für Europäer wohl der Verblüffendste. Doch es ist das Amerika, das immer schon elitäre Meinungen ablehnte, einer zentralisierten Amtsgewalt in Washington gegenüber skeptisch war, aber ein starkes Militär unterstützte, und skeptisch gegenüber dem war, was sie „do-gooding“ nennen, sei dies nun Wohlfahrt im Inland oder ausländische Hilfe.

Jacksonianismus war eine wichtige Bewegung in den 1940er-Jahren, als die ursprüngliche „America First“-Bewegung das Ziel hatte, die Vereinigten Staaten aus noch einem weiteren europäischen Krieg herauszuhalten. Jacksonischer Einfluss stand hinter dem Beharren von Präsident Franklin D. Roosevelt, dass eine „bedingungslose Kapitulation“ die einzige akzeptable Option für die Achsenmächte sei, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Der Einfluss war sichtbar nach den Angriffen vom 11. September 2001, als Präsident George W. Bush im Hinblick auf den Kampf gegen den Terrorismus erklärte: „Entweder seid ihr für uns oder gegen uns“. Und wieder wird der Einfluss bei der Priorität von Donald Trump – „America First“ Sichtbar.

Eine jacksonische Außenpolitik ist im Grunde genommen unilateral. Sie bevorzugt harte (Macht) gegenüber weicher Macht. Sie versucht, sich von Lasten zu befreien und diese nicht gemeinsam zu tragen. Jacksonianer haben kein Interesse an Demokratieförderung multilateraler Prozesse. Trump will die Unterstützung der USA für die Vereinten Nationen drastisch reduzieren, die US-Entwicklungshilfe kürzen und von Verpflichtungen der USA im Klimaschutz-Übereinkommen von Paris abrücken. Er möchte „Gegenseitigkeit“ bei Handelsabkommen und „amerikanisch kaufen und amerikanisch einstellen“. Er möchte unsere Diplomatie drastisch kürzen und unser Militär verstärken.

Jacksonianer sehen europäische Verbündete als potentielle Wertschöpfungspartner, wenn es um den Kampf gegen Terrorismus geht, oder um das Eindämmen von Sicherheitsrisiken aus dem Nahen Osten, aber stellen die Haare auf, sobald sie den Eindruck haben, dass sich Europäer als Trittbrettfahrer amerikanische Verteidigungsausgaben zunutze machen, den Feinden Amerikas durch Handel oder andere Mittel helfen, die amerikanische Souveränität oder Handlungsfreiheit einschränken oder europäische Sichtweisen nach Amerika ausweiten.

Der jacksonische Impuls ist der Rückzug aus Europa. Doch trotz allem Sturm und Drang seitens Donald Trump schlage ich vor, dass die Vereinigten Staaten drei Kerninteressen im Hinblick auf Europa beibehalten, die größer als Trump sind und seine Präsidentschaft überdauern werden.

Erstens haben die Vereinigten Staaten ein fortwährendes Interesse an Europa, das den Frieden fördert und amerikanischen Waren, Investitionen und Ideen offen gegenübersteht. Jacksonianer sind deutlich weniger gewillt als andere, beträchtliche Energie oder Ressourcen zu investieren, um dieses Interesse zu erhöhen, doch sie erkennen, dass Amerikas Demokratie in einer Welt, in der andere Demokratien auch gedeihen, wahrscheinlich sicherer ist.

Zweitens haben die Vereinigten Staaten ein Interesse an Europa, das frei von jenen Konflikten ist, welche übermäßige Ressourcen aus den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt erschöpfen. Die Jacksonianer wären die ersten, die sich darüber freuen würden, wenn Europäer beweisen könnten, europäische Konflikte selbst zu lösen. Leider zeigte sich, dass dies nicht der Fall ist, wie man anhand der russisch-ukrainischen und russisch-georgischen Konflikte, der Balkan-Kriege der 1990er und Amerikas Militärpräsenz, seinen Friedenstruppen und Bemühungen zur Versöhnung und Beruhigung sehen kann, die – auf europäische Einladung – heute fortbestehen.

Drittens herrscht Übereinstimmung, dass die Vereinigten Staaten ein reges Interesse an einem zuversichtlichen, fähigen und nach außen orientierten Europa haben, mit dem sie daran arbeiten können, sich einer Reihe von Herausforderungen zu stellen, die keine Nation alleine bewältigen kann. Während Jacksonianer zögern, amerikanische Energie oder Ressourcen in globales Wunschdenken zu investieren, haben sie nichts dagegen zuzusehen, dass andere Länder Ressourcen für die Vereinten Nationen, Entwicklungshilfe oder humanitäre Hilfe bereitstellen.

Diese Kerninteressen werden weiterhin die US-Politik leiten, auch wenn die Trump-Regierung weiterhin ein turbulenter Partner sein wird.

Dies bringt mich zurück zu Europa – und zur Geschichte.

Über viele Jahrhunderte hinweg, war die Beschaffenheit Europas durch die Beschaffenheit ihrer Mitte bestimmt – oft als Wegkreuzung, oft als Schlachtfeld.

Während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts versuchte Europas Mitte den Kontinent zu dominieren, das Ergebnis war Krieg, Wirtschaftskrise und weitreichende Verwüstung.

Während der nächsten vierzig Jahre wurde Europa von seiner Peripherie geordnet. Das Ergebnis war ein Kalter Krieg, massive militärische Aufrüstungen und ein geteilter Kontinent, von dem eine Hälfte florierte und die andere Hälfte stagnierte.

Vor 28 Jahren riss Europas Mitte diese Mauern nieder und gestaltete erneut den Kontinent.

Heute sind wir jedoch am Ende dieses Zyklus angelangt. Ich möchte daher anregen, dass unser Traum von einem vereinten, freien und im Frieden geeinten Europa nur verwirklicht werden kann, wenn Europas Zukunft letztlich durch die Beschaffenheit seiner Mitte bestimmt wird, und nicht durch die Anliegen seiner Peripherien.

Über unzählige Generationen hinweg wurden die Nationen von Europas Mitte ausgelöscht und sind wiederauferstanden, seine Völker drängten über Grenzen hinweg. Eine 99-jährige Einwohnerin Galiziens beispielsweise wurde in der Österreichisch-ungarischen Monarchie geboren, wuchs in der Polnischen Republik auf, überlebte den Zweiten Weltkrieg als Sowjetbürgerin unter deutscher Besatzung, wurde in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert und lebte die letzten 19 Jahre lang als ukrainische Staatsbürgerin – alles ohne jemals ihr Haus zu verlassen. Sie durchlebte farbige Revolutionen: rot und schwarz, rot und weiß, orange und blau. Wenn man durch die Straßen ihrer Heimatstadt L’viv spaziert – oder Lvov, oder Lwow, oder Lemberg – dann kann sie die Vergangenheit überall sehen: in den Marmorstufen der Habsburger, den deutschen Namen, die auf öffentlichen Armaturen eingraviert sind, in der Barockkirche des alten polnischen Königreichs, in den gesprungenen Fensterscheiben der Synagoge oder im Innenhof der armenischen Kirche, und in Gebäuden, die ungarischen Händlern gewidmet, oder mit jiddischen oder kyrillischen Inschriften verziert waren. Die Vergangenheit ist überall.

Die Frage, die uns beschäftigen sollte, ist nun, wie und wo ihre Kinder und Enkelkinder ihre Zukunft sehen sollen und ob sie glauben, dass ihre Nachbarn für sie da sein werden, wenn sie sie brauchen.

Heute ist diese Region wechselnder Grenzen und Völker, eine Region deren Unruhen sich so oft auf den Kontinent ausbreiteten, wieder einmal unsere Grenze der Chancen und Verpflichtungen – der Chance, die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte zu konsolidieren hin zu einem Kontinent, der wahrhaftig vereint, frei und im Frieden geeint ist, und die Verpflichtung dies durchzuziehen. Und wieder einmal stehen wir vor der Wahl zwischen Rückzug und Engagement.

Ein Teil von Europas Mitte ist in die europäische und euro-atlantische Hauptströmung integriert. Doch ein weiterer Teil ist es nicht. Die Aussichten dieser Länder, in absehbarer Zeit Mitglieder europäischer und euro-atlantischer Institutionen zu werden, sind gering. Alles in allem hatten sie weniger Erfolg bei ihren wirtschaftlichen und politischen Reformen, müssen erst anhaltende bilaterale Spannungen oder schwelende Konflikte lösen, und sind durch ethnische und nationalistische Konflikte erschüttert. Moskau steht jeglichen Bemühungen dieser Länder, engere Bindungen mit dem Westen einzugehen, skeptisch gegenüber und sowohl die EU als auch die Vereinigten Staaten sind durch ihre eigenen Herausforderungen abgelenkt.

Die Alternative ist jedoch dutzende Millionen Europäer zwischen einer wohlhabenden, demokratischen EU, einem großteils autoritären Eurasien und einem unruhigen Nahen Osten hängen zu lassen. Wie wir schmerzvoll wissen, sind derartige „Zwischenländer“ oft Cockpits für Gewalt, Konflikte und geopolitischen Wettbewerb.

Die Fähigkeit der Regierungen in der Region, diese Probleme zu bewältigen, und die Bereitwilligkeit Europas und der Vereinigten Staaten, mit diesen und mit Russland zusammenzuarbeiten, könnte nicht nur bestimmen, wohin „Europa“ geht, sondern was „Europa“ bedeutet.

Trotz transatlantischer Turbulenzen wird Amerika weiterhin hinter Europa stehen. Doch Europäer müssen zusammenarbeiten, um den künftigen Weg abzustecken. Und wie so oft in der Vergangenheit werden sich Signale aus Europas Mitte als entscheidend erweisen.
Im vergangenen Vierteljahrhundert sind Millionen Menschen in Europas Mitte nach „Europa zurückgekehrt“. Es ist eine historische Errungenschaft, auf die wir alle stolz sein können. Doch das ist nicht genug. Wenn wir wirklich ein vereintes Europa, ein freies Europa, ein im Frieden vereintes Europa wollen, dann müssen jene, die nach „Europa zurückgekehrt“ sind, die größere Bedeutung Europas erneuern und neue Kraft verleihen. Durch unser Handeln – gemeinsam – können wir, und müssen wir, uns selbst ein höheres Ziel setzen: keine Grauzonen mehr in Europa, kein „Zwischeneuropa“ mehr.

Wenn es uns nicht gelingt, jetzt eine entschiedene Haltung einzunehmen, wenn wir der Versuchung erliegen, uns zurückzuziehen, uns nach innen zu kehren, dann müssen wir – Amerikaner und Europäer gemeinsam – später vielleicht einen viel höheren Preis dafür bezahlen.

Denn es gibt kein „vereintes und freies Europa“ ohne Amerika.

Und es gibt kein „America First“ ohne Europa.

Das ist die Lehre aus dem Marshall-Plan.

Das ist die Lehre aus dem Jahr 1989.

Das ist die Lehre aus unserer Partnerschaft.

Das ist die Lehre aus der Geschichte.

Vielen Dank.